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Silke Parras - Die Mitwisser
Farbstift auf Papier
Fast jeder hat einen Karton oder ein Album, in dem er alte Familienfotos aufbewahrt. Es kommt die Stunde, da man die Fotos wieder hervorholt und in die Hand nimmt. Manche Gesichter auf den Fotos sind vielleicht völlig unbekannt, andere ganz nah, wie die von Mutter, Vater und Geschwistern. Vielleicht findet man auch sich selbst wieder. Taufe, Geburtstag, Hochzeit, Weihnachten sind festgehalten und natürlich gibt es Urlaubsbilder von der ganzen Familie. Alles scheint plötzlich wieder zum Greifen nah, als wäre es gestern gewesen - aber nicht im Detail sondern nur als Atmosphäre, die bis ins Heute ausstrahlt.
Silke Parras kennt das, nimmt eigene und fremde Familienfotos zum Anlass, einmal genauer hinzuschauen, denn Motive und Szenarien scheinen im Gegensatz zu den sehr persönlichen Erinnerungen wie austauschbare Stereotypen.
In ihrer Malerei lässt sie Menschen außer Acht, konzentriert sich ganz auf die Dinge selbst, als Repräsentanten der Abwesenden. Möbel sind es, die sie groß wie die Originale selbst in Öl abbildet. Wuchtig und dunkel kommen die Schränke, Anrichten und Regale daher. Für einen Moment glaubt man, sich wieder im Zimmer, wo sie einst gestanden haben, die Struktur des Holzes scheint spürbar, man möchte mit der Hand darüberfahren und fast gelingt die Augentäuschung, wäre da nicht diese seltsame ihnen anhaftende Sterilität. Silke Parras hat die Möbelstücke auf weißen Grund gesetzt und komplett aus dem fotografischen Kontext separiert, kein Lichtreflex, kein Schatten verortet sie mehr im Raum und alle persönlichen Spuren sind getilgt. Indem sie das einzelne Möbel aus der Alltäglichkeit löst, schafft sie eine Art Präparat, das den distanzierten Blick möglich macht. Sichtbar wird, welche Werte und Sehnsüchte diese Möbel verkörperten, die in Rückbezug auf den altdeutschen Stil der Deutschen Romantik erstmals in den 20er- und 30er- Jahren zunächst noch aus Massivholz für das zu bescheidenen Wohlstand gekommene Arbeitermilieu der Kohle- und Stahlindustrie im Ruhrgebiet produziert wurden. Heute abschätzig als Gelsenkirchener Barock bezeichnet, waren die Möbel, die im Zuge des Wirtschaftswunders in den 50er-Jahren, nun lediglich mit Echtholzfurnier, erneut produziert wurden, eine teure Investition in gefühlte Dauerhaftigkeit und damit Statussymbol, in dem sich der Wunsch nach Verlässlichkeit und Sicherheit spiegelte. Dieser Stil prägt bis in die heutige Zeit immer noch viele Wohnzimmer und galt lange als Inbegriff deutscher Gemütlichkeit, die man sich nach den überstandenen Krisenzeiten nun endlich leisten und genießen konnte.
Silke Parras greift Gegenstände auf, die stellvertretend für die Befindlichkeit ihrer Besitzer stehen. Dazu gehört das übergroße malerische Zitat der seit Mitte des 19. Jahrhunderts im Schwarzwald hergestellten Kuckucksuhr, die, als Spitzenprodukt deutscher Handwerkstradition gefeiert, in aller Welt beliebt ist. Mit dem ihr eigenen Kuckucksruf verortet sie sich im Wald, der, obwohl damals schon längst Nutzfläche, seit der Romantik zum Ideal unverfälschter Natur und vor allem im Dritten Reich zum Sinnbild nationaler Identität stilisiert wurde.
In diesem Kontext sind auch die als Diptychon angelegten Hundebilder von Silke Parras anzusiedeln, auf denen der wilde Wolf nun zum treusten Freund des Menschen geworden ist und bewusst verniedlichend im Modus von „Malen nach Zahlen" portraitiert wird. Auch der röhrende Hirsch und das Reh der Spätromantik fand den Weg vom Wald ins Wohnzimmer.
Die Darstellung von Hirsch und Hund war traditionell über ihre Bedeutung bei der Jagd den höheren soziale Schichten vorbehalten, taucht aber seit dem 19. Jahrhundert vor allem in Form von zahllosen kitschigen Wandbildern an den kleinbürgerlichen Wänden auf, und feiert nun das freie Leben des Hirschen in der wilden Natur. Ein romantischer Gegenentwurf zur Realität des eigenen Arbeitsalltags in Bergwerken und Fabriken.
Nicht zuletzt wird der Wald selbst zum Motiv. Als Ferienziel taucht der Schwarzwald auch bei Silke Parras fotorealistischen Farbstiftzeichnungen auf, bei denen Urlaubsfotos, wie die Ansichten eines Ferienhauses, als Vorlage dienten. Die Nahaufnahmen einer durchsonnten Wiese spiegelt dagegen schon einen moderneren Blick und gehört zu einer Reihe von Zeichnungen, bei denen Silke Parras Fotovorlagen wählt, die eindeutig von einer jüngeren Generation stammen, die für sie bedeutsame Ereignisse in individuelleren Bildmotiven festhält. Dazu gehört die in eine Trittplatte geritzte Kontur eines Kaninchens, bei der, wie beim halb- geschmolzenen Schneemann, Kinderzeichnungen Vorbild sind.
Die Farbstiftzeichnungen ahmen das fotografische Original, abgesehen von wenigen Manipulation, als Ganzes nahezu perfekt nach und führen noch einmal eindringlich vor Augen, welche Dinge und Ereignisse in vordigitaler Zeit im privaten Familienkreis als fotowürdig galten. Dazu gehören noch die verschiedenen Arrangements aus exotischen Zimmerpflanzen und Stillleben, die in den 50er-Jahren wieder vermehrt Einzug in deutsche Wohnzimmer hielten, und der Christbaum als Hoffnungsträger und feierlicher Höhepunkt des Familienjahres.
Die Dopplung durch die Zeichnung, mit der auch oft eine Spiegelung des Motivs einhergeht, macht nicht nur dessen Klischeehaftigkeit deutlich, sondern täuscht eben auch vor, etwas anderes zu sein. Das Moment der Täuschung und Enttäuschung setzt sich aber auch inhaltlich fort, denn die abgebildeten Dinge sind mit Emotionen besetzt, die als ganz besonders individuell und persönlich empfunden werden, aber bei genauerer Betrachtung eben auch Teil einer kulturellen Tradition sind, die überwiegend in der Deutschen Romantik wurzelt. Eine Epoche, deren romantische Sehnsucht nach Kontinuität sich nicht nur rückwärtsgewandt auf eine imaginierte „bessere" Vergangenheit richtete, sondern zeitlich auch mit der Herausbildung des Nationalbewusstseins zusammenfällt.
Silke Parras, 1978 in Emmerich geboren, studierte 2004 an der Freien Bildenden Kunst bei Hermanus Westendorp, Fachhochschule Ottersberg und 2004 - 2010 Freie Kunst bei Karin Kneffel, Markus Willeke und Stephan Baumkötter, Hochschule für Künste Bremen. 2010 folgte das Diplom der Freien Kunst und 2011 die Meisterschülerin von Prof. Stephan Baumkötter, Hochschule für Künste Bremen. Silke Parras lebt und arbeitet in Rees.
Text: Jutta Saum M.A.
Fotos: Lena Kuntze
Art | Städtische Kunstsammlung |
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Künstler | Silke Parras |
Titel des Werkes | Der Mitwisser |
Material | Farbstift auf Papier |
Größe | 52cm x 50cm |
Anschaffungsjahr | 2019 |
Homepage | www.silkeparras.de |